Türkische Kalküle – Der Umgang mit dem IS und der PKK
In der hauptsächlich von Kurden bewohnten nordsyrischen Stadt Kobane wüten die Kämpfe zwischen den Milizen des „Islamischen Staates“ (IS) und den kurdischen „Volksverteidigungseinheiten“ (kurz: YPG). Es gibt viele Verletzte und Tote, auch unter der Zivilbevölkerung. Zehntausende sind auf der Flucht. Gar nicht weit entfernt stehen türkische Panzer an der türkisch-syrischen Grenze, doch sie greifen nicht ins Geschehen ein. Warum bekämpft die Türkei nicht den IS, wo sie sich doch jüngst der US-geführten Anti-IS-Koalition angeschlossen hat? Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan erklärte, dass die Türkei die kurdische YPG (und die syrische „Partei der Demokratischen Union“, kurz: PYD) nicht unterstützen werde, da diese der kurdischen PKK nahestehe. Für die Türkei sei die PKK eine ebenso große terroristische Bedrohung wie der IS. Das türkische Militär fliegt inzwischen auch wieder Lufteinsätze gegen die PKK, nachdem für eineinhalb Jahre ein Waffenstillstand zwischen dem türkischem Staat und der PKK geherrscht hatte.
In mehreren türkischen und westeuropäischen Städten kam es in den letzten Tagen zu Demonstrationen, die sich gegen das Verhalten der türkischen Regierung richteten. Dabei kam es teilweise zu schweren Ausschreitungen, Verletzten und auch Toten.
Wie ist das Verhalten der Türkei zu erklären, welchem Kalkül folgt es und welche Gefahren birgt es?
Christopher de Bellaigue stellt auf dem New York Review of Books-Blog klar, dass die Türkei im Irak und in Syrien andere außen- und sicherheitspolitische Ziele verfolge als die USA. Das Anliegen der USA sei es, den IS zu zerschlagen und die Kurden in Syrien und im Irak zu schützen. Die Türkei wolle hingegen mit allen Mitteln den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad stürzen und wünsche sich an dessen Stelle eine sunnitische, der Türkei mehr gewogene, Regierung. Zudem ziele die Türkei darauf ab, den verstärkten kurdischen Nationalismus nachhaltig zu schwächen, damit dieser nicht von den syrischen und irakischen Autonomiegebieten auf die Türkei übergreife. Den Fall Kobanes an den IS könnte die Türkei in diesem Zusammenhang billigend in Kauf nehmen.
Peter Nowak wundert sich auf Telepolis nicht darüber, dass die Türkei die PKK wieder offen ins Visier genommen hat. Die Verhandlungen mit der PKK hätten sich für die regierende AKP Erdogans in eine ungünstige Richtung entwickelt. Der AKP sei es nicht gelungen, die PKK zu zähmen und damit gleichsam aus dem Weg zu räumen. Stattdessen habe die PKK – zumindest in Ansätzen – einen Kurswechsel vollzogen: weg vom Nationalismus, hin zu mehr direkt-demokratischen und progressiven Elementen. Das passe so gar nicht zur neoliberalen Ausrichtung der konservativ-religiösen AKP. Wirklich verschwunden sei der türkische Kampf gegen die kurdische Nationalbewegung in den eineinhalb Jahren des Waffenstillstands ohnehin nicht. Türkische (Neo-) Islamisten hätten die PKK und ihr nahestehende Kräfte immer wieder attackiert. Die türkische Regierung sei insbesondere darum bemüht gewesen, dass dies im Westen nicht allzu publik geworden wäre, so Nowak.
Auf Atatürk’s Republic ist Claire Sadar daran gelegen klarzustellen, dass die Dinge nicht so einfach liegen, wie sie zunächst erscheinen mögen. Nicht die türkische Weigerung in Kobane militärisch zu intervenieren, fache die Wut der Kurden gegenüber der Türkei an. Das Problem sei vielmehr, dass unter den Kurden der Eindruck entstehe (bzw. entstehen müsse), die Türkei sei wesentlich stärker anti-kurdisch als anti-IS. Islamisten habe die Türkei wiederholt über die Grenze gelassen, Unterstützer der Kurden werden aber nicht nach Kobane gelassen. Dass es angesichts dieser Wahrnehmung einer zunehmenden Kurden-Feindlichkeit bei den jüngsten (pro-) kurdischen Demonstrationen zu Gewalteskalationen kommen würde, hätte die türkische Regierung wissen müssen. Gegen die (vorhersehbaren) Provokationen und Attacken durch ultranationalistische und islamistische türkische Gegendemonstranten hätte der türkische Staat vorgehen müssen. Um die sich immer weiter zuspitzende Konfrontation zwischen Kurden und der AKP-Regierung zu entschärfen – manch einer spricht schon vom „kommenden Aufstand“ der Kurden gegen den türkischen Staat – rät Sadar dringend dazu, zu erlauben, dass nicht-militärische Hilfe und Kurden, die Kobane verteidigen wollen, die türkische Grenze überqueren dürfen.
Auch Hajo Funke und Lutz Bucklitsch rufen die Türkei vehement dazu auf, Hilfsgüter, Menschen aber auch Waffen über ihre Grenze nach Syrien zu lassen. Diejenigen, die Kobane retten wollten, müssten dies auch tun dürfen, egal ob sie der PKK zugeneigt seien oder nicht. Durch die Grenzabschottung unterstütze die Türkei, NATO-Mitglied und EU-Beitrittskandidat, den brutalen IS-Terror.
Schon letzte Woche stellte sich die Frage, wie sich die Türkei weiter positionieren wird. Mit den Luftschlägen gegen die PKK hat sie zumindest teilweise eine Antwort geliefert. Zur dringend notwendigen Deeskalation taugt dieses Vorgehen wohl kaum.